IMPULSE ZUR STÄRKUNG
VOM UMGANG MIT DER ANGST GASTINTERVIEW MIT JAHN GRAF Die zweite Viruswelle überflutet die Schweiz und erinnert uns erneut daran, dass wir sterblich sind. Macht Ihnen die aktuelle Situation Angst? Oder gelingt es Ihnen, Vertrauen und Zuversicht zu bewahren?
Angst war auch vor COVID-19 ein aktuelles Thema. Wir Menschen fürchten uns vor Krankheiten, Schicksalsschlägen oder anderen Katastrophen, manche haben Angst vor bestimmten Tieren oder ängstigen sich vor Flugreisen oder Menschenmassen. Wird unser Alltag aber von übermässigen Ängsten und Panik beherrscht, ist dies so kräftezehrend wie ein nie enden wollender Marathonlauf. Ungefähr 10 Prozent der Bevölkerung leidet mindestens einmal im Leben an einer Angststörung, die Folgen davon sind physische und psychische Erschöpfung, sozialer Rückzug und Depression. Und dennoch ist es die Basisemotion Angst, die unser Überleben sichert. Sie regt uns Menschen zum Nachdenken an, schützt uns vor zu grossen Risiken und garantiert in Gefahrensituationen die notwendigen Abwehr- und Fluchtreaktionen. Auch in stürmischen Zeiten wie dieser bringt uns die Angst dazu, Vorsichtsmassnahmen zu treffen und keine unnötige Gefährdung einzugehen. Wenn wir aber jegliche Risiken abzusichern und sämtliche Situationen zu kontrollieren versuchen, hat das mit Leben oft nicht mehr viel zu tun. Denn absolute Sicherheit ist eine Illusion unserer Zeit. Wie er mit der Angst umgeht, erzählt uns Jahn Graf im folgenden Interview. Eine Nahtoderfahrung aufgrund einer geplatzten Sackniere im Jahr 2015 veränderte sein Leben. Seither betreibt er unter dem Namen «Jahns rollende Welt» seinen eigenen Youtube-Kanal. Da eine Infektion mit COVID-19 für ihn gravierende Konsequenzen haben könnte, hat er sich Mitte Oktober zum zweiten Mal in diesem Jahr in Selbstisolation begeben. Welche Bedeutung hat COVID-19 für Dich? Auch die zweite Welle ist eine Herausforderung für mich. Ich habe mich Mitte Oktober, als die Infektionszahlen wieder anstiegen, zu meinem Schutz in meiner Wohnung in Selbstisolation begeben. Alle meine Vorhaben für die nächste Zeit sind derzeit unsicher. Ich kann im Moment auch keine neuen Pläne machen, denn niemand weiss, wie lange COVID uns weiter einschränken wird. Es bleibt auch mir nichts anderes übrig, als mit diesem Virus leben zu lernen. Wie immer versuche ich, aus der Situation das Beste zu machen. Welche Folgen hätte eine Infektion für Dich? Ich weiss nicht, welche gesundheitlichen Folgen eine Ansteckung für mich hätte. Aber mit Sicherheit hätte eine Infektion massive Konsequenzen für mich und mein Umfeld. Normalerweise bin in der Lage, mich selber zu pflegen. Wenn ich aber erkranken würde, wäre ich auf Hilfe angewiesen. Meine Mutter, die mich täglich unterstützt, ist aufgrund ihres Alters jedoch selber im Risikobereich. Ihre Hilfe könnte ich bei einer Infektion also nicht in Anspruch nehmen. Auch ist es für mich aufgrund meiner Behinderung viel beschwerlicher, nach einer Erkrankung «wieder auf die Beine zu kommen». Wie kommst Du mit der Isolation zurecht? Anfänglich war die Isolation sehr belastend. Ich habe alle Interviewtermine abgesagt, auch meine Projekte für das nächste Jahr sind unsicher. So plötzlich von 100 auf 0 herunterzufahren, war schon heftig. Am meisten vermisse ich meine Arbeit. Ich habe mehrmals mit mir gekämpft, weil es mir nicht gut ging, und mich selber wieder aufgefangen. Glücklicherweise muss ich nicht um meine finanzielle Existenz kämpfen, dies ist ein Privileg. Es ist die Musik und immer wieder eine Prise Humor, dir mir helfen, mit dieser Situation umzugehen. Im Moment habe ich nur zu meiner Mutter und der Physiotherapeutin Kontakt. Als Spastiker bin ich vor allem in der kalten Jahreszeit auf die Physiotherapie angewiesen, ansonsten meine Beweglichkeit verloren geht und ich Schmerzen bekomme. Wie gehst Du mit der Angst um? Vor zwei Monaten ist mein Grossvater an COVID verstorben. Und bereits im Frühling ist jemand aus meinem engen Umfeld gestorben. Der Tod relativiert so einiges. Wenn du deine eigene Sterblichkeit akzeptieren kannst, verändert sich auch der Umgang mit der Angst. Ich habe keine Angst mehr vor dem Tod. Meine Nahtoderfahrung hat meine Einstellung gegenüber dem Sterben verändert. Es kann alles sehr schnell gehen und plötzlich endet man in einem «Chübeli». Wir sollten uns deshalb stets vor Augen halten, dass unser Leben endlich ist. Deshalb stelle ich mir im Alltag immer wieder die Frage, ob ich meine Energie in Sorgen investieren oder in dieser Zeit nicht lieber das Leben geniessen will. Letzten Endes sind doch alle Probleme irgendwie lösbar. Weshalb ist der Tod Deines Erachtens ein Tabuthema? Es ist die Angst vor dem Ungewissen, die Sterben zu einem Tabu macht. Weiss doch niemand, was uns nach dem Tod erwartet. Ich kenne zudem einige, die sich auf dem Totenbett gefragt haben, ob das alles war. Zeit ihres Lebens haben sie nur funktioniert und ihr Leben nie geniessen können. Ich hingegen möchte ein Leben, das mich erfüllt. Meine Leidenschaft ist das Gespräch, deshalb führe ich gerne Interviews mit anderen Menschen. Ich liebe es, in andere Welten einzutauchen. Auch wenn es vor allem in dieser Zeit nicht immer einfach ist, werde ich diesen Weg auch in Zukunft weitergehen. Was tust Du für Dein Wohlbefinden während der Selbstisolation? Ich schaue gut zu mir. Auch geht es nicht immer darum, etwas zu tun, sondern einfach mal zu sein. Ich denke oft über meine Projekte nach und komme so auf neue Ideen. Mit meinem Umfeld bleibe ich auf digitale Weise in Kontakt. Ausserdem verbringe ich viel Zeit mit Musik, Hörbüchern, guten Filmen und Online-Schachspiel. Nachrichten konsumiere ich im Moment nur wenig, weil diese mich verunsichern. Wir werden tagtäglich mit so vielen Informationen überschwemmt, die sich teilweise widersprechen und uns verwirren. Wie sollen wir herausfinden, was wirklich der Wahrheit entspricht? Dieser «Overload» an Informationen aus den Medien verängstigt viele Menschen derzeit. Wie gelingt es Dir, zuversichtlich zu bleiben? Im Gegensatz zu vielen anderen kann ich gut mit Krisensituationen umgehen, weil ich ohnehin keinen genormten Zugang zur Gesellschaft habe. Ich bin auf den Rollstuhl angewiesen, während andere Menschen schon Mühe haben, eine Maske zu tragen. Menschen mit einer Behinderung sind oft krisenresistenter und auch kompromissfähiger, weil wir in allen Lebensbereichen flexibel sein müssen. Ansonsten könnten wir gar nicht Teil dieser Gesellschaft sein. Aber auch mir geht es manchmal schlecht, dann lasse ich meinen Gefühlen freien Lauf. Mal wüte ich, mal weine ich - aber dann lache ich auch wieder. Wir alle stehen am Steuer unseres Schiffs und können selber entscheiden, was wir aus unserem Leben machen. Wir haben es in der Hand, die Dinge zu akzeptieren oder gegen alles anzukämpfen. Ich habe gelernt, mein Leben so anzunehmen, wie es ist, und das Beste daraus zu machen. Denn die Welt dreht sich immer weiter, auch wenn ich mich dagegen wehre. Was macht für Dich ein erfülltes Leben aus? Ein erfülltes Leben bedeutet für mich, mich selber zu sein und gut für mich zu sorgen. Zudem ist es wichtig, sich selbst zu reflektieren, sich zu fördern aber auch zu fordern. Ich versuche nicht zu viel nachzudenken, sondern aktiv zu werden. Ich kann aber auch Zeiten der Langeweile geniessen. Diese ist ein schöpferischer Zustand und schenkt mir immer wieder neue Ideen. Die Langeweile ist zu Unrecht negativ behaftet. Oft überflutet uns der Alltag, aber dürfen wir nicht auch einmal im Zustand der Ebbe leben? Ich glaube, dass viele Menschen die Langeweile nicht aushalten, weil sie Angst vor dem Nachdenken haben. Sie sind immer im Handeln und gehen dem Nichtstun aus dem Weg. So liegt so vieles in ihrem Leben brach, das wichtig wäre. Jahn, bist Du glücklich? Ja, das bin ich. Herzlichen Dank lieber Jahn für das inspirierende Gespräch! Cornelia Hotz
0 Comments
|