IMPULSE ZUR STÄRKUNG
FÖRDERN STATT ÜBERFORDERN Wenn Fördern Programm wird Statt baden und Glace essen bei 30 Grad über dem Mathebuch brüten? Für viele Schulkinder war dieses Szenario während den Sommerferien Realität. Aus Angst, schulisch nicht fit genug zu sein, verbringen viele Kinder und Jugendliche einen Teil ihrer Ferien hinter dem Schreibtisch. Auch Lager zur Aufbesserung der Sprachkenntnisse, Mathe-Camps oder Computer-Kurse verzeichnen eine noch nie dagewesene Nachfrage. Doch das Fördern beginnt nicht erst nach Schuleintritt, sondern bereits in der Schwangerschaft. Manche werdende Eltern hören nur deshalb Mozart, weil klassische Musik die neuronale Entwicklung ihres ungeborenen Kindes fördern soll. Andere sprechen zuhause plötzlich eine Fremdsprache, die sie ihrem Kind pränatal vermitteln wollen. Und das Förderungsangebot entscheidet auch über die Wahl der Kindertagesstätte, weil lesen und schreiben vor Schuleintritt heutzutage beinahe Standard ist. Freizeit findet nicht statt Der zunehmende Förderwahn befeuert aber nicht nur die schulische Laufbahn unserer Kinder und Jugendlichen, sondern erobert auch ihre Freizeit. Während wir uns früher einmal pro Woche im Turnverein trafen, wird unsere Jugend heute mit mehreren wöchentlichen Trainingseinheiten zu angehenden Profi-Eishockeyspielern*innen, Profi-Fussballern*innen oder Kunstturnern*innen geformt. Bei vielen Sportarten steht nicht mehr Bewegung, Spiel und Gemeinschaft im Vordergrund, sondern wird der Fokus auf Leistung, Disziplin und Erfolg gesetzt. Und als ob der Druck nicht schon hoch genug wäre, werden manche Kinder abends noch zu täglichem Musizieren gedrängt, obschon sie weder Talent noch Freude daran haben. So sehen sich viele Kinder und Jugendliche mit einem durchgeplanten Terminkalender konfrontiert, der ihnen im Alltag kaum eine freie Minute gönnt. Weshalb Kinder ausbrennen Die zunehmende Überforderung der Kinder und Jugendlichen ist ein gesellschaftliches Problem. Der in unseren Kreisen vorherrschende Terror der Selbstoptimierung zwingt auch uns Eltern dazu, Höchstleistungen zu liefern. Doch das Streben nach Erfolg und gesellschaftlicher Anerkennung droht ein kritisches Ausmass anzunehmen. Noch nie litten mehr Menschen an Stresssymptomen, Erschöpfungsdepressionen und psychosomatischen Beschwerden. Obschon wir selber darunter leiden, übertragen wir den Selbstoptimierungswahn bedenkenlos auf die Kinder. Doch was macht es mit unserem Nachwuchs, wenn Fördern zum Programm wird und weder Zeit noch Raum für Ruhe, Spiel und Spass bleibt? Müssen Kinder und Jugendliche in allen Bereichen ihres Lebens performen und Leistungen erbringen, die ihre Ressourcen vielleicht übersteigen, fehlt ihnen der Nährboden für eine gesunde Entwicklung. Das Gefühl, den Anforderungen nicht zu genügen und dem Druck nicht standhalten zu können, löst auf Dauer psychische und physische Beschwerden aus. Niedergeschlagenheit, Erschöpfung, Ängste oder körperliche Symptome sind mögliche Folgen. Eine aktuelle Studie der Pro Juventute Schweiz zeigt, dass sich über 30 Prozent der 9- bis 15-jährigen gestresst fühlt und mehr als 45 Prozent der Jugendlichen über 14 Jahren unter hohem Stress leidet. Dass in der Schweiz wöchentlich zwei Jugendliche oder junge Erwachsene keinen Ausweg mehr sehen und Suizid begehen, ist alarmierend. Wenn das Beste zu viel des Guten ist Wir wollen für unsere Kinder doch stets das Beste und noch mehr. Und scheuen dafür keinen Aufwand. Der Nachwuchs soll die bestmögliche Schule besuchen, die bestmögliche Ausbildung erhalten, dem bestmöglichen Sportclub beitreten und sich in bestmöglichen Kreisen bewegen. Und dabei möglichst erfolgreich sein. Weil nur das Beste gut genug ist, wird gefördert, verglichen und unter Druck gesetzt, was das Zeug hält. Leider geschieht dies oft ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse und Interessen der Kinder, die vielleicht ganz andere Pläne hätten als ihre Eltern - wenn sie denn die Möglichkeit hätten, sich frei zu entfalten. Spätestens mit Beginn der Pubertät strebt unser Nachwuchs nach mehr Unabhängigkeit und Selbstbestimmung. Diese Entwicklung sowie die mit der Adoleszenz verbundene emotionale Achterbahnfahrt ist mit dem Förderwahn der Eltern nicht kompatibel, was in vielen Familien zu grossen Konflikten führt. Spätestens dann ist es an der Zeit, seine Ambitionen und Ziele als Eltern kritisch zu hinterfragen. Denn für das Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen sind nicht Leistung und Erfolg, sondern Liebe und Anerkennung entscheidend. Die Bedürfnisse seines Kindes ernst zu nehmen, ihm zuzuhören und emotional anwesend zu sein, bringt oft mehr als sich in Ratgeberliteratur und Elterncoachings zu flüchten oder den Nachwuchs zur Therapie zu schicken. Was Kinder für eine gesunde Entwicklung brauchen Es ist unsere Pflicht als Eltern, den Rahmen für eine optimale geistige, körperliche und psychische Entwicklung unserer Kinder zu schaffen. Dazu gehört ein Umfeld, in dem sich der Nachwuchs möglichst frei von Druck und Stress entfalten kann. Jedes Kind kommt mit einer natürlichen Neugierde auf die Welt, möchte die Welt erkunden und Neues entdecken. Neurobiologischen Studien zufolge lernen Kinder besser, wenn sie dabei Freude empfinden und experimentieren dürfen. Der schulische Erfolg hängt im Wesentlichen davon ab, ob die Kinder mit der Schule viele positive Emotionen verbinden. Stress, Druck und Angst sind kontraproduktiv. Unsere Kinder brauchen nebst dem schulischen Alltag aber auch Momente, über die sie selbst bestimmen können. Das freie Spiel ist der beste Nährboden für eine gute Entwicklung. Kinder, die genug Zeit haben mit anderen zu spielen, entfalten ihre Kreativität und entwickeln Sozialkompetenz. Sie brauchen aber auch Zeit und Raum, einfach mal nichts tun zu müssen. Dies gilt insbesondere für Jugendliche, die in der Pubertät anspruchsvollen körperlichen und geistigen Veränderungen ausgesetzt sind. Je mehr Zeit der Nachwuchs zur Erholung hat, zum Treffen mit Gleichaltrigen sowie für Freizeitaktivitäten ohne Leistungsdruck, desto wohler fühlt er sich. Und je wohler sich Kinder und Jugendliche fühlen, desto leistungsfähiger und widerstandsfähiger werden sie. Fördern statt überfordern In allen Bereichen unseres Lebens sollte nicht die Leistung, sondern die Freude am Tun im Vordergrund stehen. Dies gilt sowohl für uns Erwachsene als auch für die Kinder und Jugendlichen. Überprüfen Sie Ihre Ansprüche kritisch und gönnen Sie Ihrem Nachwuchs die nötige Ruhe und Leichtigkeit im Leben. Hören Sie öfters auf Ihre Intuition, statt sich von den Ambitionen im Umfeld beeinflussen zu lassen. Vergleichen Sie Ihr Kind nicht mit anderen, gibt es doch immer ein gleichaltriges, das begabter, sportlicher, beliebter oder erfolgreicher ist als ihres. Ihr Kind ist unabhängig von seinen Talenten und Leistungen ein wundervoller Mensch. Wertschätzen Sie sein einzigartiges Wesen und legen Sie den Fokus auf seine Ressourcen. Herauszufinden, wo die Stärken und Interessen Ihres Kindes liegen und diese zu fördern, bedeutet häufig auch, Abschied von den eigenen Bildern über die Zukunft Ihres Nachwuchses zu nehmen. Kinder brauchen Raum für ihre freie Entfaltung. Lassen Sie Ihrem Kind die Möglichkeit, eigene Erfahrungen und Fehler zu machen. Für seine Persönlichkeitsentwicklung ist es elementar, auch einen konstruktiven Umgang mit Misserfolgen zu lernen. Erst wenn wir als Eltern den Mut haben, uns dem gesellschaftlichen Druck zu widersetzen und die Selbstoptimierungsspirale zu durchbrechen, ist eine angemessene Förderung möglich. Und dies sollten wir nicht nur für die gesunde Entwicklung unserer Kinder tun, sondern auch zu unserem eigenen Wohl. Denn für Ihre Kinder sind Sie das Vorbild, das sie nachahmen werden. Sorgen Sie dafür, dass es ein gutes ist. Cornelia Hotz
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